In Jobcentern geht es selten darum, Menschen zu helfen - "Ich habe noch nie so viel Mobbing und Bossing erlebt, wie im öffentlichen Dienst."...

http://www.huffingtonpost.de/author/inge-hannemann
Ich habe über 8 Jahre lang in 5 verschiedenen Jobcentern gearbeitet. Schon in dieser Zeit hatte ich mich immer wieder kritisch über Hartz IV geäußert, die Agenda-Reformen kritisiert und einen Brandbrief an die Bundesagentur für Arbeit geschickt. Doch es änderte sich nichts. Nur, dass mir schließlich gekündigt wurde oder ich nach dem Direktionsrecht in eine andere Hamburger Behörde zwangsversetzt wurde. Zu meinem eigenen Schutz, wie es hieß.

In der Zeit habe ich die Arbeit in den Jobcentern nicht nur bis ins Detail kennengelernt. Ich habe auch sehr viele Kontakte aufbauen können und kenne daher die internen Machtstrukturen und Abläufe der Behörde.
Mein Eindruck: Die zahlreichen Fehlentscheidungen der Behörde werden billigend in Kauf genommen, und ich wage sogar zu behaupten: Sie gehören zum System.
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Im Video oben: Wie Jobcenter Hartz-IV-Empfänger im Stich lassen
Beispiele dafür gibt es viele. Kürzlich etwa wurden einer Hartz-IV-Empfängerin Bezüge gekürzt, nachdem sie von einer Mitarbeiterin des Jobcenters Arbeitsagentur beim Betteln gesehen worden war. Ein nicht genehmigter Nebenverdienst.
Aber wie kann es überhaupt zu so absurden Entscheidungen kommen? Schuld ist eine Mischung aus unzureichender Ausbildung, Machtgier und ein unmenschlicher Zahlenfetischismus.

Inkompetenz und fehlende Ausbildung

Dass bei Quereinsteigern durchaus (Sozial)-Pädagogen, Bürokaufleute, Versicherungskaufleute oder sonstige fachfremde Berufszweige vertreten sind, dürfte hinlänglich bekannt sein.
Das Problem ist nun, dass gerade diese Quereinsteiger bei weitem nicht ausreichend geschult werden.
Gerade einmal 35 Tage läuft in manchen Fällen die Ausbildung. Dabei nimmt eigentlich allein das Studium des Sozialgesetzbuchs II ein volles Jahr in Anspruch. Die Einsteiger lernen in den wenigen Wochen daher auch nur, wie sie sanktionieren können oder wie die Eingliederungsvereinbarung (Vertrag zwischen Jobcenter und Erwerbslosen) rechtssicher verfasst wird. Komplexe rechtliche Zusammenhänge können viele nicht erfassen und die Kenntnis rechtsübergreifender Urteile ist praktisch nicht vorhanden.
Gegenüber den Erwerbslosen ist das fahrlässig. Denn die mangelnde Ausbildung kann im Zweifelsfall eine ganze Existenz vernichten.
Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit ließ vor Kurzem die Führungskräfte der Jobcenter, Arbeitsagenturen, Regionaldirektionen und der Nürnberger Zentrale an einer Umfrage teilnehmen. Die Teilnehmer konnten dort auch eigene Kommentare verfassen, was sie auch zahlreich taten.
Auch dort wird über die mangelnde Ausbildung von Mitarbeitern angesprochen:
"Wesentliche Versäumnisse sehe ich in der Ausbildung von Personal. Die punktuelle Schulung von Quereinsteigern ist durch eine Ausbildung bzw. durch eine (sic) Studium nicht zu ersetzen. Die komplexen Aufgaben (...) sind nur durch vollumfänglich geschultem Personal (...) zu bewältigen, da nur so die Zusammenhänge von (Fehl-) Entscheidungen erkannt werden können."

Zielvorgaben der Bundesagentur

Zugleich gibt es sehr harte Vorgaben der Bundesagentur für Arbeit an die Jobcenter. Darin wird festgelegt, wie viele Stellen vermittelt werden sollen und natürlich, wie viel das ganze kosten darf.
Diese Ziele beruhen jedoch komplett auf Schätzungen, welche die einzelnen Jobcenter zu Ende bis Beginn des kommenden Jahres abgegeben haben und die oft nicht realistisch sind. Sie bilden nur zum Teil den tatsächlichen Bedarf oder regionalen Arbeitsmarkt ab.
Der ganze Druck, der dadurch entsteht, wird direkt an die MItarbeiter weitergegeben. Wer seine Ziele nicht schafft, dem drohen Gängelung und 4-Augen-Gespräche.
Ich habe noch nie so viel Mobbing und Bossing erlebt, wie im öffentlichen Dienst.
Von guten Vermittlungszahlen profitieren nur die Chefs der Jobcenter - in Form von Boni. Die Mitarbeiter selbst gehen leer aus. Die Stimmung unter ihnen ist daher oft katastrophal.
Ein internes Punktesystem für Mitarbeiter begünstigt zudem allein eine hohe Zahl von Vermittlungen.
Qualität und Dauer der Vermittlungen sind dabei nebensächlich - Kundenzufriedenheit wird kaum belohnt. So ist es auch zu erklären, dass gerade die Langzeitbetreuung, die den Menschen wirklich neue Perspektiven eröffnen kann, viel zu kurz kommt.
Ein weiterer Kommentar in der Führungskraft-Umfrage trifft das Problem am besten:
"Nach wie vor gibt es ein ausuferndes Controlling und Quantität geht vor Qualität. Ein Beispiel: Wenn jemand 11 Mal im Kalenderjahr einen Kunden in eine prekäre Zeitarbeit vermittelt, ist er Leistungsträger der Organisation.

Wer jedoch ermöglicht, dass ein langzeitarbeitsloser Kunde wieder den roten Faden in seiner Biografie findet und in eine nachhaltige Tätigkeit integriert wird, hat nur unterdurchschnittlich zum Erfolg beigetragen. Innerhalb der BA wird das Leitbild nur auf dem Papier gelebt. Kritik wird als Illoyalität verstanden und wird nicht weiter geleitet."

Machtgier und Konformismus

Liest man sich nun diesen Kommentar durch, können wir auf das Ergebnis kommen: Der Fehler liegt im System. Dem stimme ich zu. Und trotzdem sehe ich eben auch die fatalen Fehlentscheidungen durch die Mitarbeiter.
Gesetzlich haben sie freilich wenig Ermessensspielraum, aber menschlich hätten sie ihn schon. So hätte die Mitarbeiterin im Fall des bettelnden Hartz-IV-Empfängers durchaus die Befugnis gehabt, milder zu reagieren. Und natürlich kann man einer alleinerziehenden Frau, die wegen fehlender Kinderbetreuung einen Termin verpasst hat, die Bezüge kürzen - man kann es aber auch einfach sein lassen.
Selbstverständlich sind nicht alle ehemaligen Kollegen gleich. Es gibt gute Vermittler, die den Menschen wirklich zuhören und ihr Möglichstes tun, um ihnen zu helfen. Ihnen sollten wir dankbar sein. Doch sie sind leider nicht in der Mehrheit.
Denn daneben gibt es auch diejenigen, die aus Frust nur noch das absolute Minimum machen und - das sind die schlimmsten - die Machtmenschen. Meiner persönlichen Einschätzung und Erfahrung nach würde ich sagen, dass sie etwa 40 Prozent der Mitarbeiter ausmachen.
Die einzelnen Mitarbeiter haben eine enorme Macht über das Schicksal von Erwerbslosen und ich habe Kollegen kennengelernt, die regelrecht Freude haben, Leistungsberechtigte zu sanktionieren.
So grotesk das klingt: Einige sind sogar regelrecht neidisch auf die Arbeitslosen. Ich habe schon ehemalige Kollegen auf den Gängen sagen hören: "Man lebt doch nicht schlecht von Hartz IV. Die können sich davon einen faulen Lenz machen, während wir hier unsere Zeit absitzen müssen."
Andere wiederum haben selbst Ärger im Privatleben und übertragen ihren Frust auf die Erwerbslosen. Dort haben sie Macht und können ihrem Unmut Luft machen.

Jobcenter müssen Verantwortung übernehmen

Mangelhafte Qualifizierungen, Dienst nach Vorschrift oder Macht ausleben bringen mich zur Forderung, dass die Angestellten der Bundesagentur für Arbeit und die Beamten der Kommunen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen - statt sich hinter Vorschriften und Anweisungen zu verstecken.
Führen Arbeitsfehler in der freien Wirtschaft häufig zu einer Kündigung, fallen sie im öffentlichen Dienst weniger auf oder werden sogar akzeptiert.
Jobcenter sind Dienstleister und müssen sich auch als solche zu verhalten. Die hilflose und verzweifelte Wut von Erwerbslosen gegenüber willkürlich agierenden Jobcentermitarbeitern ist verständlich, und diese Fälle von Machtmissbrauch gehören in die Öffentlichkeit.
Dass damit die Gefahr besteht, Jobcenter-Mitarbeiter pauschal zu verurteilen, ist eine Folge daraus, dass das System Hartz IV grundlegend ein inhumaner Systemfehler ist und Alternativen erfolgen müssen.
Neben zunächst einer sanktionsfreien, erhöhten realistischen Mindestsicherung und exzellent fachlich geschulten, empathischen Mitarbeitern muss das mittel- bis langfristige Ziel ein Bedingungsloses Grundeinkommen sein, um dem jetzigen Controllingwahn und der Drangsalierung ein Ende zu setzen.
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